Entrückt und ernst — In Memoriam John Tavener

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Von Ivan Moody, Komponist, Dirigent und orthodoxer Priester

Sir John Tavener (1944 – 2013) war nicht nur ein überaus vielseitiger Komponist, sondern auch einer, der mit neuen stilistischen Bewegungen alle überraschen konnte. Er selbst hasste das Wort „Entwicklung“, weil er damit Avantgarde und dürren Intellektualismus verband. Vielmehr war er an der Suche nach Quellen oder Wurzeln interessiert, und diese Besessenheit verbindet tatsächlich alle Phasen seines kompositorischen Schaffens. Als ich ihn zum ersten Mal traf, fragte er mich, was ich über Tradition (man konnte das große „T“ förmlich hören) denke, und wir diskutierten dies fortan über Jahre.

Sein Ansatz, sich selbst innerhalb der Tradition zu verankern, erklärt im Rückblick, dass man so viele Verbindungen zwischen den verschiedenen Phasen von Taveners Werk erkennen kann. Diese zeigen sich im Allgemeinen durch ein Bestreben hin zu einer ekstatischen Stille, auch wenn diese durch Heftigkeit erreicht wird, insbesondere in seiner Oper „Thérese“ (1973). Die Ekstase drückte sich vor allem durch Taveners außergewöhnlichen Sinn für Melodie aus, was solch frühe Werke wie die gewaltige Kantate „Últimos Ritos“ (1968) mit „Therèse“ und darauffolgend „Akhmatova Requiem“ (1980), „The protecting veil“ (1988), Requiem (2008) mit einem seiner letzten Werke, das Liebesduett aus „Krishna“ (2012), verbindet, sowie durch den ständigen Rückgriff auf die hohe Sopranstimme.

Taveners frühe Werke, die seinen Ruhm begründeten, besonders „The Whale“ (1968) und „Celtic Requiem“ (1969) basieren auf einem fast comic-artigen Prinzip. Das „Celtic Requiem“ ist eine immense Collage, welche den lateinischen Requiemstext, frühe irische Lyrik und Kinderreime zu Todesritualen übereinanderlegt. Das Stück selbst verlöscht geisterhaft mit einem Zitat von Kardinal Newmans Choral „Lead kindly light“, mit sich selbst im Kanon gesungen. Kanons sind eine weitere Konstante im Werk des Komponisten; „In Alium“ (1968) enthält einen Kanon für 28 Stimmen, und es gibt einen dreichörigen Kanon in den bislang nicht aufgeführten „Requiem Fragments“ (2013).

„Últimos Ritos“ (1968 – 1972) ist weit strenger und handelt von der Kreuzigung, insbesondere in der mystischen Darstellung durch den Heiligen Johannes vom Kreuz. Die Lehren aus der Collagen-Periode waren jedoch nicht verloren, wie es in dem farbigen, mehrsprachigen „Nomine Jesu“-Abschnitt zu hören ist, auch tauchen Überlagerungen in „Thérèse“ (1973) auf. Dieses schillernde, gewaltsame Portrait über die spirituellen Zustände, welche die heilige Thérèse von Lisieux sterbend durchschritt, fiel bei der Kritik durch, als es 1979 schließlich aufgeführt wurde. Die Komposition wurde von einer musikalischen wie spirituellen Krise in Taveners Leben begleitet, eine Krise, die er schließlich durch die Begegnung mit Metropolit Anthony von Sourozh, dem Kopf der Russisch-Orthodoxen Kirche Englands, und seiner Konversion 1977 meisterte.

John Taverner's ethereal music was influenced by the Russian Orthodox traditions © Simone Canetty-Clarke
John Taverner’s ethereal music was influenced by the Russian Orthodox traditions © Simone Canetty-Clarke

Das erste Werk nach seiner Konversion, das Cello-Konzert „Kyklike Kinesis“ (1977), blickt gleichzeitig zurück und nach vorn. Trotz seiner gesättigten Chromatik und seriellen Konstruktion lässt es noch Raum für einen flüchtigen Moment der extatischen Stille in dem darin enthaltenen „Gesang zur Mutter Gottes“ für Solo-Sopran und Chor. Nach der desaströsen Uraufführung der „St. Johannes Chrysostomos-Liturgie“ (1977) in der Russischen Kathedrale in London erkannte Tavener, dass es selbstgemachte Traditionen waren, die er anstrebte, und er suchte fortan, diese in der Spiritualität und der Musik der Russisch-Orthodoxen Kirche zu absorbieren.

„Akhmatova: Requiem“ (1979-80) stand symbolisch für diese Veränderung, es ist durchblutet mit lyrischen Elementen, auch wenn weiterhin Zwölftonreihen verwendet wurden. Es vertont einige der herzzerreißendsten verzweifelten Gedichte, die jemals geschrieben wurden. Die Premiere 1981 unter Gennadi Rozhdesvensky wurde erneut von der Kritik verrissen, doch die Kritiker irrten sich diesmal und erkannten das authentische Meisterwerk nicht. Das Jahr 1981 sah die Komposition von Taveners für mich immer noch ernstesten und kompromisslosesten Werkes, das unbegleitete „Prayer for the World“, eine Vertonung des „Vater unsers“ in rigoros mathematischer Weise, geschrieben für den John Alldis Choir, doch die Wärme seines neuen lyrischen Stils wurde in anderen Werken sichtbar, insbesondere in „Funeral Ikos“ (1982) und im erstaunlich „nackten“ „Great Canon of St. Andrew of Crete“ (1980); Werke, die durch seine Zusammenarbeit mit den Tallis Scholars entstanden, die in ihr Repertoire gerade mittelalterliche russisch-orthodoxe Musik aufgenommen hatten.

Diese Zusammenarbeit erreichte in vielerlei Weise ihren Höhepunkt mit „Ikon of Light“ (1983) für Chor und Streichtrio. Tavener ließ seiner melodische Begabung im zentralen Satz, dem Gebet zum Heiligen Geist vom Heiligen Simeon dem Jüngeren, freien Lauf und umgab ihn mit einer Reihe genau kalkulierter kurzer Vertonungen einzelner Worte. Der folgende Strom von liturgischen oder paraliturgischen Kompositionen prägte das Bild des Komponisten für die meisten mit Chormusik verbundenen Menschen, doch wurde paradoxerweise „Vigil Service“ (1984), das erstmals liturgisch in der Christ Church Cathedral, Oxford, aufgeführt wurde, der Höhepunkt dieser Periode. Leider haben Chöre noch nicht grundsätzlich die Gelegenheit entdeckt, einzelne Sätze daraus zu singen, obwohl die bemerkenswerten Vertonungen „Phos hilaron“, „Nunc dimittis“ und die Große Doxologie zur besten a-cappella-Musik gehören, die Tavener je schrieb. Acht andere Werke dieser Periode verdienen eine Wiederentdeckung in Konzerten, wie das ernst-schöne „Eis Thanaton“ (1985), eines von mehreren Werken zum Gedächtnis der Mutter des Komponisten, und das monumentale chorsymphonische „Akathist of Thanksgiving“ (1987).

Eine Verbindung von melodischer Schönheit und ritualisierten Strukturen liegt sowohl Akathist wie auch „The Protecting Veil“ (1988) für Cello solo und Streicher zugrunde, dessen Erfolg ebenso spektakulär wie unerwartet war. Es öffnete den Weg für „Mary of Egypt“ (1989), eine Kammeroper, die Tavener lieber als „bewegte Ikone“ bezeichnete, und für zwei großformatige Werke über grundlegende Themen christlicher Theologie, „The Apocalypse“ (1991) und „Fall and Ressurection“ (1997).

In der Zeit, da er „Lamentations and Praises“ (2000) für Chanticleer schrieb, begann Tavener, sich eines mehr universellen Ansatzes zu bedienen, so dass er sich in „Lament for Jerusalem“ (2000) Elemente aus dem Christentum, dem Judentum und dem Islam bedienen konnte. Andere Werke beziehen sich direkter auf spezifische Traditionen, Buddhismus, Islam und Hinduismus eingeschlossen, aber es ist eine Kombination aus diesen – oder eher, in Taveners Augen – die Suche nach der ewigen Quelle hinter ihnen, die einige seiner bemerkenswertesten späten Werke kennzeichnet, insbesondere das siebenstündige „Veil of the Temple“ (2002) und das erstaunlich schöne „Requiem“ (2008).

Taveners letzte Werke rufen viele Verbindungen zu seiner früheren Musik ins Bewusstsein. „The Death of Ivan Ilyich“ (2012), ein Monodrama nach einem Text von Tolstoi, das sich von den Tiefen der Verzweiflung zu einer strahlenden Apotheose bewegt, deutet auf „The Immurement of Antigone“ (1978) und „Akhmatova Requiem“ hin, während das Liebesduett aus „Krishna“ (2013), das sich nach Tavener selbst auf das Beispiel von Papageno und Papagena aus der Zauberflöte bezieht, an das „Segens-duett“ aus „Mary of Egypt“ erinnert, und der tiefe Gesang der Bässe in „Om namo narayanara“ legt den Gesang des Vaterunsers in Ikon of St. Seraphim nahe. Dieses Stück, wie auch das „Requiem“, scheint mit der mystischen englischen Tradition von Holst (insbesondere „Savitri“ und „The Hymn of Jesus“) und John Foulds verbunden zu sein.

Kurz vor seinem Tod sagte Tavener „Das Entrückte und das Ernste sind zwei Gebiete, in denen ich mich zuhause fühle, und das Weibliche, ja, das Weibliche, das Ewig Weibliche“ – unmöglich, eine bessere Zusammenfassung seines Lebenswerkes zu finden.

 

Ivan Moody ist Komponist, Dirigent und orthodoxer Priester. Derzeit ist er Professor für Kirchenmusik an der Universität von Ostfinnland und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Orthodoxe Kirchenmusik. Jüngste Kompositionen umfassen „Simeron“ für Gesangstrio und Streichtrio, in Auftrag gegeben vom Gaeyvaerts Trio, „Fioriture“ für Klavier solo, das von Paul Barnes im Lincoln Center uraufgeführt werden wird und „Qohelet“ für das italienische Ensemble De Labyrintho. Derzeit arbeitet er an Auftragskompositionen für das Cistermusica Festival und für die BBC Singers; 2014 wird er composer in residence an der Biola University sein. Jüngste Veröffentlichungen enthalten Artikel über Gubaidulina und Godár. Gerade hat er ein Buch über Modernismus und orthodoxe Spiritualität in zeitgenössischer Musik beendet. E-Mail: ivanmoody@gmail.com

Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Schuck, Deutschland

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